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REPORTAGE/BERICHT

 

AUSLAND

Arabella auf Arabisch

 

In Deutschland wird im Dezember 50 Jahre Fernsehen gefeiert. Als es nur zwei, drei Sender gab, war das Programm Straßengespräch - doch die Zeiten sind lange vorbei. Anderswo in der Welt ist der Bildschirm bis heute tagtägliche Volksbelustigung. Zum Beispiel in Ägypten

Von Jürgen Stryjak

Am 5. März dieses Jahres meldet die staatliche ägyptische Tageszeitung "Al-Ahram" eine Straftat: Als ein Mann gerade ein wichtiges Fußballspiel im Fernsehen anschaut, geht das Bild weg. Er läuft hinaus, um den Vorfall zu untersuchen, und schlägt den Dieb, der soeben seine Satellitenschüssel stehlen will, in die Flucht. Kann denn Fernsehen so wichtig sein, daß es Menschen Hals über Kopf ins Verderben treibt?

Es läuft "Dream TV", einer von zwei privaten ägyptischen Satellitenkanälen. "Mein Mann", schimpft eine Frau ins Zuschauertelefon, "hat ein Geschlechtsorgan, aber es funktioniert nicht!" Die Talkrunde von Hala Sarhan war, nun ja, ein wenig vom Thema abgekommen. Man wollte über die Probleme junger Singles um die 30 reden, die noch nicht geheiratet haben, weil sie die Erwartungen der Eltern, Nachbarn und zukünftigen Schwiegereltern nicht erfüllen können — Aussteuer, Wohnung, teure Hochzeitsparty. Aber am Ende hatte sich in der Sendung eine Zuschauerin sogar als süchtig nach Selbstbefriedigung geoutet. Was war schiefgelaufen? Nichts. Hala Sarhan, Aushängeschild und Vizepräsidentin von "Dream TV", wird gelegentlich als die Oprah Winfrey der arabischen Welt bezeichnet, sie gilt als erste Araberin, die das Wort Sex im Fernsehen aussprach, und sie ist bekannt dafür, daß sie keine Gelegenheit ausläßt, um ihr Publikum mit einem Tabubruch aufzuschrecken.

Also alles wie bei Arabella, Vera und Britt? Nicht ganz. Während in Deutschland selbst Grundschüler bei den Nachmittagstalks nur müde gähnen, machen Skandale in Ägypten noch richtig Spaß. Eine britische Ägypterin, die ganz scharf darauf ist, "Dream TV" in London zu empfangen, müssen die Spezialisten einer technischen Info-Website enttäuschen. Sie bräuchte dafür eine Neun-Meter-Schüssel. Im Land am Nil reichen 80 Zentimeter.

Zusammen mit Mobiltelefonen gehört Satellitenempfang zu den Dingen, wegen derer sich selbst Unterschichtsägypter nahezu widerstandslos in die endgültige Armut stürzen. Marode Häuser, so warnen Zeitungen, drohen wegen der Last auf ihren Dächern zusammenzubrechen, selbst Slumviertel sind gelegentlich unter den Schüsseln kaum noch zu sehen. Auf fast allen Kairoer Hochhäusern recken sie sich schwarz vor hellgrauem Großstadtdunst im Morgengrauen in den Himmel — eine 17-Millionen-Metropole am interstellaren Tropf.

Die "Fada'iyat", die Satellitenkanäle, sind dabei, die Fernsehlandschaft Ägyptens zu revolutionieren, gewissermaßen gegen den Willen der Regierung. Erst drangen CNN, MTV und Co. in die Wohnstuben ein, dann fast zeitgleich die amtlichen arabischen Kanäle der Golfstaaten, später ihre privaten Konkurrenten und am Ende "Al-Dschezira" aus dem Scheichtum Qatar, das auch schon mal innerhalb einer einzigen Woche erst als Werkzeug Israels und dann als das der Islamisten verteufelt wird. Die arabischen Kanäle kritisieren selten bis nie Machthaber oder Verhältnisse im eigenen Land, fallen aber dafür um so herzhafter über die der anderen Länder her. Ägyptische Feministinnen, umstrittene Säkularisten, religiöse Hardliner oder auch Extremisten, die es nie auf die neun terrestrischen Staatskanäle Ägyptens geschafft hätten, kommen plötzlich aus dem Weltall ins Land der Pyramiden.

Auf die drohende Abstimmung mit der Fernbedienung reagierte das Staatsfernsehen mit einem Dutzend neuer, kontroverser Polit- und Talkshows. In ihnen streiten die Gäste über weibliche Beschneidung, Korruption oder die Zeitehe. Die Sendungen heißen "Rote Linie", "Durchbruch" oder "Ohne Zensur", werden allerdings oft nicht live bzw. zehn Sekunden verzögert ausgestrahlt. Hamdi Qandils populäres Programm "Chefredakteur" wurde einmal nach zehn Minuten sogar abgebrochen. In einer weithin konservativen, familienorientierten und traditionellen Gesellschaft mit zudem vierzig Prozent Analphabeten ist das Fernsehen eine Macht und ein Ereignis gleichzeitig.

Die neun terrestrischen Regierungskanäle im Land am Nil kommen aus dem Kairoer Sendezentrum Maspero, dem ägyptischen Adlershof, und ihr Programm wirkt auf den ersten Blick so behäbig und staatstragend wie einst das DDR-Fernsehen. Die Nachrichten machen fast immer mit dem Präsidenten Mubarak auf, heikle ägyptische Ereignisse — Terroranschläge, Eisenbahnunglücke — erfahren die Leute zuerst aus dem Ausland, weil das Informationsministerium eine Weile braucht, um sich eine offizielle Meinung zu bilden, und das kann Stunden dauern. Fünfmal täglich werden die Sendungen — alle, auch Spielfilme — für den Gebetsruf des Muezzin unterbrochen. Moderatorinnen dürfen keinen Schleier tragen, aber alle Wetterprognosen und die Programmvorschau beschließen sie mit "Insha'Allah", so Gott will. Und Gott läßt die Sendungen anfangen, wann Er möchte.

Niemanden stört's. In ägyptischen Kaffeehäusern, Läden, Firmenbüros, in Beduinenhütten und selbst auf den Armaturenbrettern von manchen Taxis läuft ununterbrochen ein Fernsehapparat. Der Kasten singt und lacht, schluchzt und droht, lärmt, flimmert und funkelt. Aber er ist nicht das wirkliche Leben. Fernsehen in Ägypten funktioniert irgendwie wie Viagra, es unterstützt Gefühle, die ohnehin schon da sind, hebt die Stimmung im Kaffeehaus, verstärkt Familienzank, spendet Trost mit alten Musikfilmen aus der heilen Welt der vierziger Jahre, oder es streichelt die Seelen der Frommen mit religiösen Erbauungsprogrammen.

Doch in der Regel ist Fernsehen nur Beiwerk für gesellige Runden. Vorspänne von ägyptischen Seifenopern dauern oft drei, vier Minuten lang, selbst wenn sie jeden Tag ausgestrahlt werden. Während Fernsehen im Westen schnell zur Sache kommt, sind die Vorspänne für Ägypter bereits die Sache selber, weil in ihnen getanzt, musiziert und gesungen wird. International erfolgreiche Serien aus Deutschland werden gar nicht erst angekauft — viel zu leise, viel zu wenig Melodramatik. Der ägyptische Serienstar Ahmed Khalil brachte Deutschland über einen Umweg in die Medien, als er im Interview von seiner deutschen Frau schwärmte: "Anders als unsere spionieren die deutschen Ehefrauen nie in den Jacken- und Brieftaschen des Gatten herum." Empörung in ägyptischen Wohnzimmern und Gejohle in den Kaffeehäusern.

Über die Sendungen wird in den Familien gestritten, in Zeitungen und im Parlament debattiert. Alle protestieren, aber keiner schaltet weg. Im Sommer 2001 sprach der Grossmufti Ägyptens eine Fatwa, ein islamisches Gutachten, gegen die arabische Lizensausgabe der Show "Wer wird Millionär" aus, weil sie eine moderne Form von Wettbetrügerei sei und die Produzenten sich am Geld bereicherten, das die Zuschauer ausgeben, wenn sie die Bewerber-Hotline anrufen. Doch "Man sayarbah al-million" läuft immer noch und ist inzwischen eines der erfolgreichsten Programme.

Die Prime Time des ägyptischen Fernsehens ist der Fastenmonat. Im Ramadan, sagt der Volksmund, hat Gott die Tore des Paradieses geöffnet. Im Falle Ägyptens kommt eine Parade an Seifenopern, Gameshows, religiösen Sendungen und endlosen Werbeblöcken für Bratenfett, panierte Hähnchenteile, Autos und Fernsehapparate heraus. Quotenhit ist jedesmal eine Soap, die im gesamten Monat täglich läuft und ganze Familien in zwei Hälften spaltet wie sonst nur die Starbegegnungen der Fußballklubs. Im Jahre 2000 ging es um die Ehe zwischen einem Muslim und einer koptischen Christin. 2001 wurden in "Hagg Mitwallis Familie" die Segnungen einer Mehrfrauenehe vorgeführt, in der Mitwallis vier Ehefrauen so begeistert den einen Mann teilen, daß sie auf den jeweiligen Hochzeiten miteinander tanzen und freudenträllern. In diesem Jahr ist "Reiter ohne Pferd" der Straßenfeger, eine Serie, die provokant die antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion" verarbeitet.

Ägyptisches Fernsehen ist ein lauter und bunter Zirkus zwischen Muezzin-Gebetsruf und Skandaltalks. In der Quizsendung "Contest Show" auf Kanal 7 bekommt ein Kandidat Punktabzug, weil er darauf besteht, daß Bogota die Hauptstadt Kolumbiens sei, und nicht Botoga, wie die Moderatorin behauptet, ein anderer verliert, weil er nicht weiß, daß die Fläche des Sudan 275 Millionen Quadratkilometer beträgt. Das ist zwar mehr als die Fläche der halben Erde, aber: Malesh, macht nichts, wenige kommen auf die Idee, Fernsehen wirklich beim Wort zu nehmen. Es überrascht auch kaum jemanden, daß der Nachrichtenchef des Staatsfernsehens derzeit im Gefängnis sitzt und auf seinen Prozeß wartet. Ihm wird vorgeworfen, gegen Bakschisch Geschäftsleute publikumswirksam ins Frühstücksprogramm "Guten Morgen Ägypten" lanciert zu haben.

Kommunikationswissenschaftler behaupten, daß die jüngsten Tabubrüche im Fernsehen um so schneller an Wirkung verlieren, je öfter sie geschehen, und so gibt es vieles, was Lebensentwürfe beeinflußt: Werbespots, Musikvideos und Sendungen wie "'Alam as-Simsim", die ägyptische "Sesamstraße", die Kinder an Themen wie Gleichberechtigung der Frau, Umwelt und gesellschaftliches Engagement heranführt. Der Rest funktioniere wie ein ägyptisches Kaffeehaus: Einen Abend lang wird geschwafelt und Dampf abgelassen, und am Ende sei alles wie gehabt. Insha'Allah.

Erschienen in "Das Magazin", Ausgabe Dezember 2002. Die Fotos entstammen nicht der Druckausgabe des Beitrages.