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REPORTAGE/BERICHT

 

KAIRO

Big Mango

 

Ägyptens Metropole hat doppelt so viele Einwohner wie der Big Apple New York. Ist auch eine Mega-City mit viel Beton, Verkehr, Superreichen, Spleens und affektierter High Society. Auf ins reine Großstadtabenteuer — ohne Pyramiden und Museum!

Von Jürgen Stryjak

Frühling in Kairo. Das ist eine Lüge. Wer immer sich, erschrocken oder begeistert, dazu verleiten lässt, eine Bemerkung über diese Stadt zu machen, der muss damit rechnen, an der nächsten Ecke als Lügner überführt zu werden. Oder mindestens als Ignorant. Wo bitteschön könnte es in dieser Stadt so etwas wie Frühling geben? In diesem 16-Millionen-Moloch, der an vielen Ecken heute so aussieht, wie es der Film "Blade Runner" den Superstädten des neuen Jahrtausends schon vor 20 Jahren prophezeit hat, Hightech und Verfall nebeneinander, Menschenmassen, die sich durch das Verkehrschaos quälen. Beton, Asphalt, Staub und Blech, aber nichts, was darauf hinweist, dass Jahreszeiten überhaupt noch irgendeine Rolle spielen, geschweige denn der Frühling.

"Es gibt nichts Schöneres, als an einem Nachmittag im Frühjahr im Kairoer ›Marriott Garden‹ beim Lunch zu sitzen", schwärmt Natacha Atlas, die britische Underground-Diva mit dem ägyptischen Großvater, die Bauchtanzrhythmen mit Techno mixt oder Lobpreisungen Allahs im James-Bond-Sound der 60er singt. 1999 erhielt sie den französischen Musik-Oscar und tourt regelmäßig durch Deutschland. Für EMI Virgin spielte sie ihre neueste CD in Kairo ein. In einer Stadt, sagt sie, die genau wie ihre Musik ist: eine wirklich aberwitzige Mischung aus Tradition und Moderne.

Der ›Marriott Garden‹ hinter dem Khediven-Palast, auf der Nil-Insel im Stadtzentrum, ist noch so eine Lüge. Man könnte ihn etwas gnädiger auch eine Legende nennen, beliebt bei Kairo-Besuchern wegen des reinen, nahezu geläuterten Anblicks, der sich ihnen bietet. Ein wohlerzogenes orientalisches Gemälde, Bambusstühle, Bilderbuchpalmen mit bunten Lichterketten umwickelt, stinkreiche Araber aus den Golfstaaten und die Kairoer Upperclass beim Stella-Bier.

Die Touristen schlendern zwischen zwei Cappucchini durch den Palast, den der ägyptische Vizekönig Ismail vor eineinhalb Jahrhunderten für die französische Kaiserin Eugenie erbauen ließ. Mit ein wenig Glück geraten die Reisenden in eine Nobelhochzeit der Kairoer Highsociety, nicht minder prunkvoll als die Salons und Ballsäle, in denen sie stattfindet. Die Touristen stellen sich mit ins Spalier, klatschen und staunen eine Weile. Oder sie gehen aufs Dach ins elegante Al-Maz-Kino, wo Julia Roberts und Hugh Grant sich zaghaft auf der Leinwand unter freiem Himmel küssen, vom Wasserpfeifenrauch der Kinobesucher eingehüllt.

Am Nilufer vor dem ›Marriott‹ steigen Nancy und ich in ein Taxi, das uns zu den wirbelnden Derwischen in die islamische Altstadt bringen soll. Nancy, Amerikanerin, Endvierzigerin, Großmutter und Hobby-Bauchtänzerin, gehört zu jenen Ausländern, die sich in dieser Stadt niederließen, um sie voll auskosten zu können. Wegen der vielen "treats", wie sie sagt, der Überraschungen und Genüsse, die Kairo an jeder Ecke bereithält. Dieser "treats" wegen nennen die hier lebenden Amerikaner die Stadt The Big Mango, in Anlehnung an den Big Apple New York. Im ersten Jahr am Nil unterschrieb Nancy alle ihre E-Mails nach Hause mit "Living my dream". Inzwischen tut sie das auch nur noch auf gut Arabisch: "Aysha Helmi".

Draußen reißt das Bild zu Cinemascope-Format auf. Die Szenen vor dem Taxi huschen vorbei wie in einem jener schnellen Werbespots der Endneunziger, in denen sich Zeitlupe und Zeitraffer abwechseln. Die Skyline der beleuchteten Hochhäuser am Nil, der elegante Wolkenkratzer des Außenministeriums, das halbrunde Fernsehgebäude, in der Ferne der "Meridien"-Hotelturm mit seinen 42 Stockwerken und dem "UFO" obendrauf, am Ufer Restaurantschiffe, die wie Schatullen funkeln.

Die Fahrt zu den Derwischen ist eine Zeitreise. Wir passieren Downtown, vorbei an Hunderten von Schuhgeschäften, fliegen auf einer Hochstraße über die islamische Altstadt und landen direkt im 16. Jahrhundert, an der Wekalat al-Ghuri. Einmal im Monat schaut Nancy dort den tanzenden Derwischen zu. Zweimal wöchentlich drehen sie sich zu religiöser Musik in Ekstase, in einem Prunkstück islamischer Architektur, das Moschee, Koranschule und Karawanserei in einem ist und dessen aufwändige Sanierung kürzlich abgeschlossen wurde. Am Ende reißt es Nancy, wie die anderen, vor allem ausländischen, Besucher zu Beifallsstürmen hin und geradezu von den Bänken.

Als sie im Taxi nach Hause fährt, schläft sie ein, weil sie den ganzen Tag über in einem amerikanischen Kindergarten gearbeitet hat, für umgerechnet 700 Mark im Monat. Am nächsten Tag zählt sie in einer E-Mail nach Amerika Dinge auf, die es so wahrscheinlich nur im Big Mango gibt. Unter anderem: "…dass ich allein im Taxi einschlafen kann, ohne befürchten zu müssen, dass mir als Frau etwas zustößt." Kairo gilt als eine der sichersten Metropolen der Welt — trotz der großen sozialen Not in der Stadt. Ein Viertel der Bewohner lebt in Armenvierteln. 60 Prozent aller Arbeitnehmer müssen mit weniger als zwei Mark pro Tag auskommen. Natürlich gibt es auch Verbrechen, aber mehr im näheren sozialen Umfeld der Täter. Übergriffe auf Ausländer kommen im Grunde nicht vor.

Für ihre Besucher aus Amerika hält Nancy eine Tour parat, die in wenigen Stunden durch mehrere Jahrhunderte führt. An der nordöstlichen Ecke des Ezbekiyya-Gartens gehen sie in das alte Sednaoui-Kaufhaus. Einst war es das edelste Kaufhaus der Stadt, erbaut nach dem Vorbild der Pariser Galeries Lafayette und 1913 eröffnet.

Allah sei Dank fehlte seit der Verstaatlichung 1961 das Geld, es kaputt zu sanieren. Gußeiserne Galerien und Säulen, breite, geschwungene Treppen und Balustraden. Ein gläsernes Dach, freistehende Lifte, die immer noch in Betrieb sind, und alte Inschriften in Französisch und Englisch auf ockerfarbenem Holz. Stumm, so stumm, als könnte ein unbedachtes Wort die marode Kulisse aus ihrem Dornröschen-Schlaf reißen, schlendern Nancys Gäste vorbei an Teppichen, Stoffen, eingestaubten Töpfen und finden noch gelegentlich Anzüge und Kleider auf der Stange, die vermutlich schon seit Jahrzehnten dort hängen. "Manchmal", sagt ein Verkäufer, "werden hier historische Filme gedreht."

Hinter dem Kaufhaus geht es durch das Gassengewirr vom Bab al-Bahr zum Bab ash-Shaariyya Square und weiter zum Stadttor Bab al-Futuh — durch jenen Teil der islamischen Altstadt, der als der volkstümlichste von Kairo gilt. Manche Familien betreiben dort seit Jahrhunderten ihr Gewerbe — Krämer, Schuhmacher, Metallhandwerker, die die großen Foul-Kannen für die ganze Hauptstadt herstellen. Die Menschen sind entspannt und neugierig. Ausländer kommen selten vorbei. Von den Händlern bekommen diese Weißkäse zum Probieren geschenkt und Pasterma, einen ägyptischen Gewürz-Formschinken. In der großen Hofmoschee al-Hakim am Stadttor, von den Einheimischen Moschee al-Anuar genannt, gelingt es mit einem Bakschisch, die Schlüssel für das Dachgelände zu erhalten. Nancys Freunde besteigen Minarett und Stadtmauer und sehen bei Sonnenuntergang den Gläubigen von oben beim Abendgebet im Hof zu. Auch hierher verirren sich nur selten Ausländer.

Auf dem Weg zum al-Hussein Square passiert man die Darb al-Asfar. Die Gelbe Gasse ist ein Musterbeispiel gelungener Altstadtsanierung. Im Café "El-Fishawi", dem berühmtesten Kaffeehaus der Stadt, treffen sich Touristen und Einheimische beim Tee — mitten im Basar Khan Al-Khalili. Jenem Areal, in dem die Geschichten aus 1001 Nacht von Handelsreisenden erzählt wurden, bevor sie jemand aufschrieb. Wer sich durch die verwinkelten Gassen dieses Mikrokosmos aus bunten Waren, Tand und Kunst aus heimischer Produktion treiben lässt, vorbei an polyglotten und geschäftstüchtigen Händlern, durch Schwaden aus Parfürmölen, Gewürzen, Fleischgeruch und Seifen-Odeur, taucht ein in pure Marktwirtschaft. Und wer sich beim Souvenirkauf von schlitzohrigen Basaris über den Tisch ziehen lässt, darf sich trösten: Das geht wohl allen so, die die Hauptgasse aus falscher Furcht nie verlassen.

Mit dem Taxi nach Heliopolis, wo sich vom Roxy Square nach Osten eine der lebendigsten Einkaufsstraßen der Stadt erstreckt, mit Läden, deren gleißende Schaufenster bis in die zweite oder dritte Etage der Häuser im Stil orientalischen Neobarocks reichen. Die Lust am Kitsch wird nur noch von der al-Horria Shopping Mall am al-Ahram Square übertroffen. Dieser bonbonfarbene Architektur-Alptraum ist bis in den siebten Stock vollgestopft mit Modeläden. Im Billard-Café unter dem Dach treffen sich die Gymnasiasten der Gegend. Auf den Bildschirmen dudeln MTV-Videoclips.

Wenn Nancys Gäste später im Bett liegen, haben sie noch die Geräusche im Ohr, Gebetsruf und MTV, und sie haben Kairo gesehen, als hätten sie in ein Kaleidoskop aus Kindertagen geblickt. Am nächsten Morgen möchten sie das Ding wieder hochnehmen, drehen es ein wenig und sehen ein komplett anderes Kairo. Wer nach seinem ersten Besuch nach Hause zurückkehrt, weiß oft immer noch nicht, ob es diese Stadt wirklich gibt oder ob er die vergangenen Tage nur geträumt hat. Kairo im neuen Millenium sei alles gleichzeitig, sagt Nancy, amerikanisch und arabisch, europäisch und afrikanisch, ein lärmender Basar Jahrtausende alter Gewohnheiten und neuester Trends, nicht selten aber trashig und geschmacklos.

Am ehesten ist Kairo in diesen Tagen vermutlich so etwas wie ein Feldversuch in Sachen Globalisierung, bei dem keiner vorherzusehen vermag, wie er ausgeht. Regierung und Behörden treiben diesen Versuch nicht sonderlich an. Die meisten Medien sind immer noch linientreu und konservativ, die Privatisierung der Staatsbetriebe hat den Schwung der 90er wieder verloren. Trotzdem treffen alle möglichen Einflüsse dieser Welt fast ungebremst auf diesen brodelnden Kosmos aus 16 Millionen Menschen. Lokalzeitungen warnen davor, dass die maroden Häuser in den Vierteln der unteren Mittelschicht unter der Last der Satellitenschüsseln und Leuchtreklamen zusammenbrechen werden. Über ein Dutzend Internet-Provider buhlen um Surfer. Ökonomen machen den Handy-Wahn der Hauptstädter für die jüngste Liquididätskrise des Landes verantwortlich. Mobiltelefone sind das Statussymbol schlechthin und ruinieren die Haushaltskasse vieler Kairoer Familien. Während im weltweiten Durchschnitt pro Handy etwa 150 Minuten im Monat gesprochen wird, sind es in Kairo stattliche 500 Minuten.

Auf den Straßen begegnen einem ständig Irre, die laut vor sich hinbrabbeln. Erst wenn sie näher kommen, erkennt man, dass sie mit den Sprechgarnituren ihrer Mobiltelefone verkabelt sind. Wann immer sich Kairoer um einen Tisch versammeln, legen sie ihre Handys der Reihe nach auf ihm ab. Das wirkt wie ein Stammesritual aus einer Zeit, als arabische Männer ihre Säbel vor sich ablegten, bevor sie sich niedersetzten. Nur in den Moscheen muss das Ding abgestellt werden. "Ramadan im Motorola-Zelt" kann man auf Plakaten lesen, die noch vom letzten Fastenmonat in den Straßen hängen.

Diese Stadt ist ein Nanu-Nana-Laden der Kulturen. Am Freitag, dem muslimischen Sonntag, sind erst die Moscheen voll und später die Shopping Malls. Und fast im Monatsabstand werden neue eröffnet. Arkadia heißt die jüngste, ein Hightech-Tempel des Konsums, mit über 500 ägyptischen und internationalen Geschäften, gläsernen Fahrstühlen, Kunsteisbahn und einer riesigen Leinwand, auf der Michael-Jackson-Videos flimmern.

Wo Kairoer sich aufhalten, da ist es laut. Um Kundschaft anzulocken, lässt draußen vor der Arkadia-Mall ein fliegender Weckerhändler alle seine Wecker ununterbrochen klingeln, die Autos hupen ständig, auf den U-Bahnhöfen rieselt Musik auf die Wartenden herab, oft plärren zeitgleich Werbespots von Bildschirmen. Und warum soll der Ägypter über mir in unserem Haus nicht um Mitternacht damit beginnen, ein Loch für die neue Klima-Anlage in die Wand zu stemmen? Da hat er Zeit und es ist angenehm kühl.

Erst nachts nach zwei Uhr erbarmt sich Kairo seiner Menschen. Rund um die Uhr sind Leute unterwegs, weil die Bewohner dieses hoffnungslos überbevölkerten Fleckens offensichtlich in Schichten leben, aber es kehrt etwas Ähnliches wie Stille ein. Jetzt am Nil oder durch die Altstadt bummeln. Jetzt einen Mangosaft trinken, jetzt Milchreis in einem jener Läden kaufen, die nur Milchreis und Joghurt anbieten und das auch noch morgens um vier. Mit dem Taxi bis zum Sonnenaufgang kreuz und quer durch die leeren Straßen gondeln. Oft haben die Fahrer eine Umm-Kulthum-Kassette laufen. Dann singt die große arabische Diva ihre unerfüllten Sehnsüchte in die Nacht, als stünde uns die Strafe für das Unheil, das wir angerichtet haben, unmittelbar bevor. In solchen Momenten kann man am besten nachempfinden, was Max Rodenbeck, Ägypten-Korrespondent des "Economist" und Autor des Bestsellers "Cairo — The City Victorious" über die Stadt sagt: "Dieser Ort mag schäbig sein, ja, sicher auch schmuddelig und lärmend. Aber Kairo ist wie ein alter Schuh, er sitzt wie angegossen."

Der Autor Jürgen Stryjak (39) wohnte von 1993 bis 95 in der islamischen Altstadt Kairos. Seit über eineinhalb Jahren lebt er nun mit der Familie wieder in der Nil-Metropole, "weil Berlin, meine eigentliche Heimatstadt, gegen Kairo ein verschlafenes Nest ist".

Erschienen in "abenteuer und reisen", Ausgabe Mai 2001. Zum Beitrag gehören in seiner Printausgabe zusätzlich noch fünf Seiten GUIDE mit Reise-Infos inklusive Hotel-, Restaurant-, Nightlife- und Shopping-Tipps. Die hier verwendeten Fotos entstammen nicht der Druckausgabe des Beitrages.