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KOLUMNE

 

Bingo!

 

Jürgen Stryjak über den Nervenkitzel U-Bahn

Das Paar, das vor mir aus der U-Bahn stieg, hatte den Mann zuerst gesehen. Regungslos lag er in der Mitte des Bahnsteiges neben einer Bank. Die Frau versuchte, ihn umzudrehen. Vergeblich, der Mann stöhnte nur. Die Sache schien ernst. Die Frau blickte um sich und flehte: "Bitte rufen Sie einen Notarzt!" Ich sah schon die Schlagzeilen vom nächsten Tag: "Berliner stirbt auf dem U-Bahnhof. Alle schauten weg!" Das sollte auf keinen Fall passieren. Ich lief zur Notrufsäule am Ende des Bahnsteiges und drückte auf den Knopf. "Feuawea oda Polißei?" schepperte die Säule. Mein Gott, sie berlinert, dachte ich erleichtert, wenigstens bin ich nicht in einem mecklenburgischen Callcenter gelandet. "Wir brauchen einen Krankenwagen", antwortete ich. – "Feuawea oda Polißei?" herrschte mich die Säule ein zweites Mal an. Hm, gute Frage. Der Verletzte stand weder in Flammen, noch hatte er wohl gerade ein Verbrechen begangen. "Hier liegt einer mit einem Herzanfall oder so was. Bitte rufen Sie einen Notarzt!" Das verstand die Säule.

Als ich zurück zur Bank kam, lief die nächste U-Bahn ein. Ich sah, wie unser Sterbender einsteigen wollte. "Na denne, schönen Tach ooch, und vielen Dank, wa", lallte er zu der Frau. Der Mann war einfach nur betrunken. "Hinsetzen!" befahl die Frau und packte ihn, "Sie warten, bis der Krankenwagen kommt!" Er torkelte zur Bank und jammerte leise: "Schön' Dank ooch, prima, Hauptjewinn, wieda ßweehunnat Mark fürn Arsch."

In Berlin U-Bahn fahren ist wie Fernsehen gucken. Meistens läuft der Offene Kanal. Man kann Leute sehen, die wirres Zeug vor sich hinfluchen, eine Bierdose auf dem Kopf tragen oder ununterbrochen in eine Handy-Attrappe plappern. Oder ich sehe in der BILD-Zeitung vom Nachbarn zwei Schlagzeilen verschmelzen, die – eigentlich – nichts miteinander zu tun haben: "Super-Bingo. Berlinerin in der Todeszelle." Manchmal bietet einem auf dem Bahnsteig auch ein Junkie ein Fahrrad für 50 Mark an, das er gerade eben geklaut hat. Um all das erleben zu können, gönne ich mir eine Jahreskarte, übertragbar und im voraus bezahlt. Weil's billiger ist. Trotzdem bin ich in der letzten Zeit viermal beim Schwarzfahren erwischt worden, immer dann, wenn sich einer meine Karte borgte und vergaß, sie mir zurückzugeben. Viermal Strafe, das macht 240 Mark. Kürzlich fiel mir in der U-Bahn ein, daß der neue Monat bereits vor fünf Tagen begonnen hatte, die neue Wertmarke aber noch zu Hause an der Wand pinnte. Wieder fuhr ich also schwarz. Beim Anblick der vielen offensichtlich verstörten Mitfahrer habe ich mich gelegentlich gefragt, warum die sich gerade in der U-Bahn versammeln und was passieren muß, damit man all diesen merkwürdigen Dinge tut. Plötzlich wußte ich es. Wenn mich jetzt, zum fünften Mal, ein Kontrolleur erwischte, würde ich wahnsinnig werden, wirres Zeug vor mich hin brabbeln und damit beginnen, eine Bierbüchse auf dem Kopf zu tragen. Hinzu kommt, daß ich eigentlich nicht mehr weiß, warum ich den Nahverkehr mit seinen Wucherpreisen überhaupt noch fördern soll – brauchte ich doch neulich vom Flughafen Tegel nach Hause in die Berliner City zehn Minuten länger als für den Flug von London nach Berlin. Kontrolleuren müßte man eigentlich statt der Fahr- eine rote Karte zeigen.

Als der Notarzt kam, lief ich ihm auf dem Bahnsteig entgegen und fragte: " Sie sind der Notarzt?" Er antwortete: "Nee, die Feuawea!"

Erschienen in "Das Magazin", Ausgabe Juli 1999.