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ESSAY

 

Gib's mir global

 

Entfernungen verdampfen, wir erfahren im Fernsehen, daß die Tiefgarage unter uns gerade im Hochwasser versinkt und suchen im Internet nach Rotkohl-Rezepten. Sind wir eigentlich noch ganz bei Sinnen? JÜRGEN STRYJAK grübelt am Nil über das Aualama — das Weltchen

Vor einer Weile lief ich mit Hamburger Freunden den Kairoer Altstadtbasar Khan Al-Khalili entlang, als mein Mobiltelefon klingelte. Ein Berliner Bekannter rief an, allerdings nicht aus Berlin, sondern aus Tunesien, wo beim Baden im Mittelmeer das Schmalz in seinem rechten Ohr zu einem festsitzenden Pfropfen aufgegangen war. Dieser machte den Bekannten nicht nur taub, sondern tat ihm auch noch ziemlich weh.

Der ortsansässige Apotheker, der nur Tunesisch sprach und kein Englisch verstand, begriff nicht, was der Deutsche, der da vor ihm mit der einen Hand am Ohr rumfummelte und mit der anderen einen Ball formte, überhaupt von ihm wollte. In seiner Not überlegte der Bekannte, ob er in Nordafrika nicht jemanden kennen würde, der ihm helfen könne, griff zu seinem Handy und rief mich Tausende Kilometer weiter auf meinem Handy an.

Ich sollte dem Apotheker auf arabisch das Problem mit dem Ohrenschmalzpfropfen erklären und nach bestimmten Tropfen fragen. Das habe ich natürlich gern getan. Je bekloppter, desto lieber ist mir diese ganze Globalisierung. Unsere vernetzte Welt, in der die Entfernungen verdampfen, weil jeder mit jedem und alles mit allem verknüpft ist — beziehungsweise verknüpft sein könnte, denn Globalisierung ist ja immer noch auch ein großes Versprechen —, nimmt, wie ich finde, immer absurdere Formen an.

Später in einem Kaffeehaus des Basars erzählten mir die Hamburger Freunde, wie sie einmal in einer bundesweiten Fernseh-Nachrichtensendung die Tiefgarage ihres Hauses am Hamburger Fischmarkt ins Bild kommen sahen, weil es gerade ein Unwetter inklusive überschwemmter Tiefgaragen in Hamburg gegeben hatte. Davon wußten sie bis zu jenem Zeitpunkt noch gar nichts. Und daß es sich um ihre Tiefgarage handelte, ihre eigene, wenige Stockwerke unter jenem Zimmer gelegen, in dem sie gerade vor dem Fernsehgerät saßen, das merkten sie erst, als die Kamera auf das eigene, natürlich abgesoffene Auto schwenkte.

In Jerusalem, wo schon seit Jahrtausenden Globalisierung ist, weil dort fast alle wichtigen Weltreligionen zu Hause und ihre Gläubigen zu ein und demselben Gott beten, teilte ich vor zehn Jahren mit einem Neuseeländer eine Nacht lang das Zimmer in einer Herberge. Bis morgens um drei erzählten wir uns gegenseitig alte Folgen der Sesamstraße, von Ernie, Bert und Krümelmonster. Beide waren wir in den Siebzigern von der Sesamstraße sozialisiert worden, ich in der DDR, nördlich von Berlin, und er in Auckland, auf der anderen Seite der Weltkugel. In jener Nacht in Jerusalem war ich optimistisch und dachte, daß es eigentlich nur gut sein kann, wenn alle auf der Erde die gleichen Erfahrungen machten und dadurch einander ähnlicher würden. Vielleicht entstünde ja auf diese Art mehr Gemeinsamkeit und mehr Verantwortungsgefühl für unsere Welt.

Mein Optimismus hat abgenommen. Von, sagen wir, Pirna oder Gütersloh aus gesehen, kann diese ganze Globalisierung ja eigentlich nur als irre spannend empfunden werden, weil sie Abwechslung in den tristen Reihenhausalltag bringt. Die globale vernetzte Welt als Sedativum, als Verheißung und Traumwelt. O ja, gib's mir! In Kairo hingegen stellen sich die Leute immer öfter die Frage: Wer globalisiert hier eigentlich wen? Globalisierung zerstört uns unsere Märkte und, so reden die Menschen, mit Gewalt- und Sexvideos unsere Moral. Mit MTV macht sie uns unsere Söhne und Töchter abspenstig. Davon, daß immer mehr arme Leute sich am Fenster der Globalisierung die Nasen von außen platt drücken, ganz zu schweigen.

Jüngst durfte ich erleben, wie der Traum Internet auch bei Deutschen zerplatzte, ganz profan, bei einem Rotkohlgericht. In Kairo lebende Landsleute hatten uns zum Essen eingeladen, zu Roulade und Rotkohl, und weil sie in Deutschland, als sie noch dort wohnten, den Rotkohl immer tischfertig aus dem Glas nahmen, wußten sie gar nicht genau, wie sie ihn würzen sollten. Er schmeckte scheußlich. "Das ist der Pfeffer", sagte die Frau beleidigt, "ich nehm' ja nie Pfeffer, aber das stand so im Internet."

Wenn ich bei Fast Search (www.alltheweb.com) nach dem Stichwort Rotkohl suche, findet die Suchmaschine in 0,03397 Sekunden 1.430 Dokumente, bei nicht wenigen davon handelt es sich um ausführliche, internationale Rotkohlrezepte. Was kann schon schiefgehen, wird die Hausfrau in der Küche frohlockt haben, wir haben ja das Internet!

Experten bezeichnen die Fülle dessen, was da globalisiert auf uns einstürmt und was am Ende — anders als das von Oma persönlich überlieferte Kochrezept — gar nicht mehr verarbeitet werden kann, mit dem Wort Erfahrungsbeschleunigung, einem Wort, das so bedrohlich klingt, als entstamme es der Weltraumforschung oder der Atomphysik. Erfahrungsbeschleunigung ist, wenn ich zum Beispiel hier in Kairo in unseren Supermarkt an der Ecke gehe, der übrigens bis morgens um sechs offen hat und dann für 2 (in Worten: zwei) Stunden schließt, und dort neben oberägyptischem Trockenobst und syrischen Äpfeln auch eine deutsche Zeitung kaufe, in der ich dann lese, daß der ZDF-Musikantenstadl des Österreichers Karl Moik am letzten Sonntag live aus der Verbotenen Stadt in Peking übertragen wurde. Und weil die Chinesen das Programm übernahmen, konnte der Musikantenstadl plötzlich einen Rekord von 800.000.000 (in Worten: achthundert Millionen) Zuschauern verzeichnen. Sind wir eigentlich noch ganz bei Sinnen.

Ein zweites Beispiel: An dem Tag: nach dem die Maschine der Egypt Air vor New York ins Meer stürzte, beschäftigten mich vorwiegend Dinge, die ich aus dem Internet erfuhr. Zuerst las ich beim Einloggen in die Website der Berliner Sparkasse, bei der wir ein Konto haben, folgendes Schild: "Sie haben uns außerhalb unserer Betriebszeiten angewählt. Die Betriebszeiten sind: Montag bis Freitag von 6 bis 24 Uhr." Ich traute meinen Augen nicht. Öffnungszeiten im World Wide Web. Jetzt verfolgt einen dieser ganze deutsche Ladenschlußquatsch übers Internet schon bis nach Afrika. Am Vormittag desselben Tages hörte ich auf meinem Berliner Radiosender, der in ziemlich guter Qualität online übertragen wird, daß der Bahnübergang Bergfelde bei Berlin gesperrt werden mußte. Sofort benachrichtigte ich per E-Mail eine Freundin, die dort wohnt, damit sie sich für den Heimweg aus dem Büro darauf einstellen könne.

Am Abend sah ich auf der Passagierliste jener Egypt-Air-Unglücksmaschine, die CNN ins Internet stellte, den Namen eines Computergraphikers aus Ohio, den ich erst drei Monate zuvor im Internet kennengelernt hatte und der, ich erinnerte mich, in jener Woche nach Kairo fliegen wollte. Kurz darauf erhielt ich die E-Mail einer kanadischen Freundin, einer Reiseagentin aus Montreal, in der sie mir mitteilte, daß sie eine Gruppe ägyptischer Austauschschüler, die aus den USA zurück in die Heimat fliegen wollte, auf genau jenes Flugzeug gebucht hatte, das dann ins Meer stürzte. Damit muß sie, obwohl sie natürlich keine Schuld trifft, erst einmal fertig werden. Tausend Sachen gehen ihr durch den Kopf, und jedem, der davon erfährt, gehen noch einmal tausend Sachen durch den Kopf. Und ganz schnell sind das zusammen Millionen Sachen. Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?

Auf arabisch heißt Globalisierung übrigens Aualama, Weltchen, die Verkleinerungsform von Welt. Weltchen, das gefällt mir viel besser als das deutsche Buchstabenmonster Globalisierung. Bei dem muß ich immer an die Riesenraumschiffe denken, die in Independence Day morgens dunkel am Himmel stehen, als der verblüffte Stadtrand-Familienvater zur Tür seines Reihenhauses herauskommt, die Morgenzeitung noch in der Hand. Weltchen, das ist hingegen der Ort, an dem ich mir, wie auf einer Wiese, mit lieben Freunden gegenseitig E-Mails zupuste. Weltchen, Wäldchen.

Inzwischen kommt mir die Globalisierung vor wie eines jener schicken Fotomodels, für das sich alle interessieren und das auf den Titelbildern der Magazine und in den Werbespots der Welt zu Hause ist. Aber wenn man ihm eine eigene Fernsehshow gibt, wo es den Mund aufmacht und spricht, erschrecken alle, weil nur Stuß rauskommt.

Erschienen in "Das Magazin", Ausgabe Februar 2000.