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REPORTAGE/BERICHT

 

SINAI

Land ohne Grenzen

 

Die Wüste, die Berge, der Himmel — sie sind das Leben für die Beduinen des Sinai. Die kleine Hasnaa hört, riecht und fühlt diese Welt, aber sie sieht sie nicht. JÜRGEN STRYJAK berichtet aus Ägypten

Hasnaa, das kleine Beduinenmädchen vom Sinai, ist blind. Noch nie hat sie gesehen, wie die Berge im Licht der untergehenden Sonne zu wandern beginnen, wie die Felsen immer neue Formen und Farben annehmen, als wollten sie sich offenbaren und endlich ihre ganze Geschichte während einer einzigen Abenddämmerung erzählen. Von der Landschaft des Sinai kennt Hasnaa nur die Stimmen: den Wind, Tierlaute, das Rauschen des Meeres und das Arabisch ihrer Eltern. Eines Abends, am Feuer vor dem Haus, vernimmt sie Laute einer Sprache, die sie nicht versteht, weil sie nicht zum Sinai gehört. Ihr Vater hat Europäer zu Gast. Bald darauf erfährt sie, daß diese Fremden, Touristen aus Deutschland, zu Hause Geld sammeln werden, um ihr eine Augenoperation in Kairo zu bezahlen. Doch Kairo ist weit weg, hinter den Bergen, die das kleine siebenjährige Mädchen nicht sieht, und hinter einer Wüste, die auch für den Sehenden keinen Anfang und kein Ende hat. Hasnaa wartet.

Vor langer Zeit warnte eine alte arabische Regel die städtischen Bewohner Kairos: "Geh nicht in die Wüste, mein Sohn, sonst ergeht es dir wie dem Stamm, der seine Rinde verlor." Denn die Wüste bedroht dein Leben. Gegen das Verdursten können dir Wasservorräte helfen, gegen den Hunger Proviant, und allen anderen Gefahren kannst du mit Klugheit, Weitsicht und Allahs Hilfe begegnen. Aber in der Wüste leben die Beduinen, umherziehende Nomaden, und ihnen bist du hilflos ausgeliefert. Sie sind die Stärkeren, sie sind im Überleben trainiert und haben sich immer geholt, was sie brauchten, und wenn sie es nicht kriegen konnten und Not litten, haben sie eher Heuschrecken gegessen, als daß sie von ihrem Stolz auch nur ein dattelgroßes Stück hergaben.

Salam Salman Aid (39), der Vater von Hasnaa, ist Beduine vom Stamm der Muzeina. Das Dorf, in dem er lebt, heißt Wassat El-Mazr'a und liegt an der Westküste der Sinai-Halbinsel. Sie gehört zu Ägypten. Und Ägypten, das ist Kairo, die Riesenmetropole weit im Westen, hinter den Bergen, der Sandwüste und dem Suez-Kanal. Früher dauerte die Reise nach Kairo mehrere Tage — auf dem Pferd oder dem Kamel. Heute kommen von dort täglich Lastkraftwagen und Busse. Sie waren sieben Stunden unterwegs und bringen Tageszeitungen, Lebensmittel und Touristen — und manchmal auch einen Beamten aus irgendeiner Regierungsbehörde.

Allerdings steuern die Fahrzeuge das zwei Kilometer entfernte Nuweiba an, und das ist den Beduinen von Wassat El-Mazr'a auch recht so. Zwischen Beduine und Ägypter wird immer noch fein säuberlich unterschieden, auf beiden Seiten. Und Nuweiba ist das Dorf der Ägypter, jener die ins Beduinenland kamen, um Geld zu verdienen, die Touristendörfer und Krämerläden eröffneten, Ämter, Restaurants und eine Polizeistation.

Natürlich fahren die Beduinen von Wassat El-Mazr'a hin und wieder nach Nuweiba. Zum Einkaufen auf den Dorfplatz, zum Freitagsgebet in die Moschee oder um in einer der Cafeterien die letzten Verwaltungsentscheidungen zu erfahren. Dort treffen sie sich auch mit Touristen, die von ihnen in die Berge geführt werden wollen. Für mehrtägige Touren verlangen die Beduinen 50 Mark pro Tag, und nicht wenige von ihnen verdienen so ihren Lebensunterhalt.

Vor allem aber dort in den Bergen spüren sie, daß das Land ihrer Väter immer noch ihnen gehört. Sie wissen, wo die schönsten Sanddünen sind und wo sie Reisig für das Feuer finden können, backen Fladenbrot, kochen Tee, und begrüßen andere Beduinen, die scheinbar zufällig vorbeikommen. Die Touristen sitzen oft wortlos am Lagerfeuer, weil sie die Stille beeindruckt und die tiefe Schwärze des Nachthimmels, in den Gott seine Engel mit Speeren Löcher hineinstoßen ließ, um etwas vom goldenen Glanz zu zeigen, der sich dahinter befindet. Bis hoch zum Sternenhimmel und zum Horizont weit hinter den Bergen kannten die Sinai-Beduinen nie Grenzen. So war es früher, und für die wenigen Stunden am Feuer wird diese Erinnerung lebendig.

Es ist die Erinnerung an ein Leben auf einem schmalen Grat zwischen Himmel und Erde, auf einem Boden, der außer Sand und Steinen kaum etwas hergibt. Die wenigen Dinge, die sie ihm entreißen konnten, waren so perfekt aufeinander abgestimmt, daß den Beduinen klar war: Es kann sich nur um Geschenke Gottes handeln. Wasser aus wohlbehüteten Brunnen, karger Weidegrund, dem sie mit ihren Ziegen und Schafen hinterherzogen, Heilkräuter, deren unzählige Namen und Wirkungen Salam Salman Aid heute noch kennt, wo er doch längst schon in die Apotheke nach Nuweiba fährt. Und dann das Kamel, des Menschen unermüdlicher Bruder, und seine Schwester, die Dattelpalme. Mit dem Kamel legten sie die oft großen Entfernungen zwischen Wasserstelle und Weidegrund zurück. Es lieferte ihnen Milch, Wolle, und aus dem sorgfältig gesammelten Kot wurde Kamelkoks für das Feuer.

"Früher", sagt die Schwiegermutter von Salam Salman Aid, "gab es wenig Wasser, aber es war genug. Heute reicht ein ganzer Tankwagen nicht. Früher war Brot oft alles, was wir hatten, heute bedeutet uns Brot wenig. Alles war Baraka, ein Segen, eine Gottesgabe. Wir waren zufriedener damals." Beduinen mögen die fünf vorgeschriebenen islamischen Gebete pro Tag nicht immer einhalten, auch können viele von ihnen den Koran nicht lesen, weil Lesen und Schreiben dem Dasein in der Wüste wenig nützt. Aber erfahren sie nicht täglich, daß ihnen trotz Mangel und zeitweiliger Not das Überleben in der Wüste möglich ist? Daß sie in einer lebensfeindlichen Landschaft offensichtlich Teil eines weisen Planes sind, dem der Mensch mit Ehrfurcht begegnen sollte?

Daraus entspringt ihre tiefe Religiösität, die wenig mit auswendig gelernten Grundsätzen und steifem Ritual zu tun hat. Dem großen göttlichen Plan begegnen sie in ihrem Alltag mit einem Reglement, das dieses sensible Gleichgewicht, in dem sie leben, bewahren soll. Die wenigen Brunnen sind zwischen den Stammesgruppen aufgeteilt, wie auch die Weideplätze. Alle Absprachen werden mündlich getroffen und sind über Generationen hinweg verbindlich. Sie sichern die Nahrungsgrundlagen und somit das Überleben. Jedem Reisenden in der Wüste, egal ob Freund oder Feind, wird Gastrecht gewährt. Sobald er das Beit Schaar, das Haarhaus, betreten, dort gegessen und getrunken hat, unterliegt er dem Schutz der Beduinen wie ein Familienmitglied. Die Verantwortung für das Wohlergehen des Reisenden endet erst am nächsten Zelt des nächsten Gastgebers, egal, wie weit es entfernt ist.

Selbst die Familiengründung gilt als Investition ins Stammesleben. Selten nur wird über Stammesgrenzen hinweg geheiratet, und auch heute noch ist es üblich, daß der Mann die Bint al-Amm, die Tochter des Vaterbruders, zur Frau nimmt. Als vor 17 Jahren die Mutter von Salam Salman Aid starb, kam seine Tante zu ihm und bot ihm ihre Tochter an. Er lehnte nicht ab. Als er sich mit dem Vater der Auserwählten über die Brautgabe einig war, ging Salam mit einem Geschenk zu ihrem Zelt, um sie unverschleiert zu sehen. Das ist die letzte Chance für die Frau, den Mann abzulehnen, in dem sie das Geschenk nicht annimmt. Für Salam war diese Heirat eine Vernunftentscheidung, und er erklärt: "Sie ist die Mutter meiner Kinder." Damit ist alles gesagt. Das eigene Glück spiegelt sich in dem der Beduinengemeinschaft wider. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Salam hat sieben Kinder. Zur Hochzeit kamen damals über 300 Gäste. Drei Tage und zwei Nächte wurde ununterbrochen gefeiert, mit Festtafeln, Tänzen und hundertfachen Zagharied, den langgezogenen Freudentrillern arabischer Frauen. Das ist der wirkliche Reichtum der Beduinen im kargen Wüstendasein. Am letzten Abend der Hochzeitsfeier zog die gesamte Festgesellschaft mit Braut und Bräutigam vor das neue Zelt des jungen Paares und verabschiedete es in den Familienalltag. Einige Stunden noch blieben die Mutter und zwei Schwestern der Braut bei den beiden im Zelt, um der jungen Frau Trost zu spenden. Die Behörden aus Kairo verlangen seit einiger Zeit eine schriftliche Eheurkunde, aber die Behörden aus Kairo verlangen viel. "Wenn wir dieses Papier nicht wollen", sagt Salam, "dann wollen wir es eben nicht. Der Handschlag reicht. Die Behörden wollten auch Ahmed ins Handwerk pfuschen, aber sie haben es nicht geschafft."

Ahmed ist Beduinendoktor am Fuße des Berges Sinai, auf dem Moses, Prophet der jüdischen, christlichen und islamischen Religion, Gottes Worte empfing. Ahmed ist berühmt unter den Beduinen. Sein Großvater hat ihm ein Buch hinterlassen, das genaue Beschreibungen von Heilpflanzen und ihren Wirkungen enthält. Er baut sie alle in seinem Garten an, Kräuter gegen Zahnschmerzen und Sehschwäche, Schwangerschaftsprobleme und Herzleiden. Über Ahmeds Erfolge erzählt man sich unter den Beduinen die wundersamsten Geschichten, und Salam ist sicher, daß dieses Buch von Gott stammt. Vor einiger Zeit kamen die mißtrauischen Behörden aus Kairo, um Ahmed das Handwerk zu verbieten. Sie prüften und prüften und schickten Proben ins Labor in die Hauptstadt. Und ließen ihn am Ende gewähren.

Zuletzt erregte Kairo den Unmut der Beduinen, als es hieß, sie sollten das Land, das ihren Vätern seit Jahrhunderten gehört, nachträglich kaufen und ins Grundbuch eintragen lassen. Doch die Beduinen wissen, daß sie sich nur anpassen können. Längst sind sie seßhaft geworden, wohnen in einfachen, kleinen Häusern und ziehen nur noch selten mit ihren Zelten an einen entfernt gelegenen Weideplatz. Und die jüngeren unter ihnen wollen die Annehmlichkeiten des neuen Lebens nicht mehr missen. Sie hoffen auf die Anstrengungen der Regierung, wieder mehr Touristen ins Land zu holen, und sind zur Zusammenarbeit bereit. General Ahmed Nagi, Bürgermeister von Nuweiba, lobt das Umweltbewußtsein der Beduinen und unterschrieb jüngst den Vertrag für ein Projekt zum Schutz der Natur in den Sinai-Bergen, das ihnen die Verantwortung dafür überträgt.

Endlich war es soweit. Hasnaa, Salams blinde Tochter, fuhr mit ihren Eltern zur Operation in das Krankenhaus El-Agouza nach Kairo. Sherif M. Sheta, Professor für Augenheilkunde, ist in Ägypten und den USA ausgebildet. Ob er mit seinem Eingriff Erfolg haben wird, kann er nicht voraussagen. Wenn er ihm allerdings gelingt, wird die kleine Hasnaa eine andere Welt sehen als die, die den Eltern vertraut war. Wenn auch Salams Familie sich — wie die Nachbarn — einen Fernseher gekauft haben wird, wenn endlich das Telefon da sein wird, das andere in der Siedlung längst haben, und wenn die Touristen wieder häufiger kommen und ihre Kultur mitbringen, dann sind die Bilder aus aller Welt ganz nah, und die Bergwelt mit ihren Tälern, den Weideplätzen und Oasen wird sich Stück für Stück weiter entfernen.

Doch nach einer Woche im Krankenhaus ist es klar: Hasnaa kann nicht sehen. Sie hat die Verbände abnehmen und zum Sinai zurückkehren dürfen, aber ihre Augen tränen so stark, daß der Vater mit ihr ein zweites Mal nach Kairo fährt. Der Arzt sagt, Medikamente, weitere Behandlung oder gar eine zweite Operation könnten vielleicht doch noch die Sehkraft bringen. Aber dafür ist kein Geld da.

Salams Schwiegermutter sitzt vor dem Haus und flickt in der Mittagshitze eine Zeltbahn. Vor einigen Tagen erst kam sie aus den Bergen zurück, vom Weidegrund der Familie unweit des Berges Sinai. Hin und wieder noch zieht der Stamm mit seinen Tieren an diesen Platz. Wie früher, nur daß die Zelte statt mit dem Kamel mit dem Jeep dorthin gebracht werden. Nichts ändert sich von heute auf morgen bei den Beduinen. Und nur Gott allein weiß, ob die kleine Hasnaa eines Tages doch noch ihr Augenlicht erhalten wird.

Erschienen in "Das Magazin", Ausgabe Oktober 1994.