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KOLUMNE

 

Resterampen

 

Jürgen Stryjak über die Grenzen der Beschleunigung

Vor einiger Zeit flog ich mit einem Freund nach Alaska, nicht weil wir schon immer dorthin wollten, sondern weil das Flugticket, hin und zurück, nur 400 Mark kostete. Ein Schnäppchen. Eine knappe Woche waren wir dort, ein langes Wochenende gewissermaßen. Auf die Frage, wo wir langfliegen würden, zuckte die Stewardeß nur mit den Schultern, antwortete dann nach einigem Überlegen aber erleichtert: "Geradewegs über den Pol!"

2000 Kilometer Alaska zogen an unserem Mietwagen vorbei, weitere 600 sahen wir von oben – weil wir einem Flug mit Reno Air zum Nordpolarkreis für 55 Mark (!) nicht zu widerstehen vermochten. ("In Deutschland verkauft ihr Billigschuhe", sagte ich zur Dame am Reno-Counter.) Unseren Rückflug nach Deutschland hätten wir am Ende fast in einem Imbiß vertrödelt, weil die amerikanischen Pizzen so groß sind. 20 Minuten vor Abflug schlenderten wir gleichgültig in die Maschine. Das Bordkino zeigte Twister, direkt über dem Nordpol schlief ich ein. Wieder zurück in Berlin kam es mir vor, als hätte ich die vergangenen Tage nur im Kino erlebt. Alaska war wie mehrere Folgen Gute Zeiten, schlechte Zeiten hintereinander an mir vorbeigerauscht. Die Geschwindigkeit, mit der alles ablief, machte mir Angst. Manchmal, wenn ich im Supermarkt Nudeln mit Tomatensoße im Doppelpack kaufe, weil sie im Sonderangebot sind, denke ich noch flüchtig an mein Alaska-Schnäppchen – wie an einen Film vom letzten Sommer.

Der französische Philosoph Paul Virilio behauptet, daß wir die Grenzen der Beschleunigung erreicht hätten. In allen Lebensbereichen. Vor zehn Jahren gab es die Mauer noch, jetzt – nur kurz darauf – sind allein in Europa mehrere Kriege begonnen und beendet worden, drei Millionen Europäer wurden Flüchtlinge, 80 Millionen Menschen weltweit verkabelten sich mit dem Internet, in fast hundert Ländern wurden Mobilfunknetze aus dem Boden gestampft. Ist die Asienkrise eigentlich schon zu Ende? Was gab es vor der CD? Und wer war Monica Lewinsky? Wahrscheinlich hätte es niemanden verwundert, wenn in diesen paar Jahren die Mauer wieder zu- und wieder auf- und wieder zu- und wieder aufgegangen wäre. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, wie in einem Durchlauferhitzer.

Mein jüngstes Schnäppchen führte meinen Sohn und mich nach Tunesien. Wir wollten uns ein paar schöne Tage machen, konnten uns eine Fahrt mit der Deutschen Bahn zu deutschen Ferienzielen aber nicht leisten. Der Flug nach Afrika kostete uns nur gute 200 Mark, das Handbuch Tunesien über 40 und hatte damit unsere Reisekasse schon fast gesprengt, noch bevor wir losgefahren waren. Dabei blieb uns nicht mal viel Zeit, in dem Buch zu lesen. Wir wollten doch nur einen netten kleinen Ausflug machen. In Tunesien übernachteten wir in einer Erdhöhlenpension, die wir aus Star Wars kannten, wo sie als Filmkulisse diente. Und wieder war alles wie im Kino. Genauso flüchtig.

Ein Porzellanhersteller erzählte mir, er träume davon, daß sich die Leute alle drei Jahre neues Geschirr in neuem Design kaufen. Von einer Ausstattung pro Familie und Generation könne die Branche nicht leben. Alle drei Jahre ein neues Kaffeeservice – das muß Virilio gemeint haben, als er von den "Grenzen der Beschleunigung" sprach. Kontinentalreisen und Kaffeeservice, Krisen und Kriege – soviel Rudis Resterampe war nie.

Erschienen in "Das Magazin", Ausgabe August 1999.