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KOMMENTAR | |
Kommentar für die "Märkische Allgemeine Zeitung" (MAZ) zur Debatte "Soll die Türkei in die EU?", veröffentlicht am 12. Dezember 2002. |
PRO |
JÜRGEN STRYJAK |
Man könnte meinen, der Untergang des Abendlandes stünde bevor. Europas protestantische Wurzeln, die Renaissance, selbst die jüdisch-griechisch-römische Antike — beim Griff in die historisierende Mottenkiste scheint nichts abwegig genug, um zu suggerieren, dass Ankaras Ansinnen, der EU beizutreten, offensichtlich eine Art Türkenfeldzug in modernem Gewand sei. Die Todesstrafe in Friedenszeiten wurde abgeschafft, der Ausnahmezustand in den Kurdengebieten aufgehoben, Regelungen zum Minderheitenschutz erlassen, ein Folterverbot verfügt. Das 31-Punkte-Reformprogramm von vorletzter Woche lässt zudem von Pressefreiheit bis Menschenrechte wenig aus, vorgebracht von Erdogans regierender AKP, die als islamistisches Schreckgespenst herhalten muss, aber in Wirklichkeit eine konservative, neoliberale Mittelstandspartei ist, die den Willen zeigt, das Land auf dem Weg zur Zivilgesellschaft voranzubringen, mit einem Tempo, das sie für viele Beobachter längst zu einer säkularisierten, demokratischen Partei mit religiösem Hintergrund gemacht hat — ähnlich der CSU in Bayern. Motor dieser atemberaubenden Entwicklung ist die Aussicht, Mitglied der EU zu werden. Die Bedingungen sind besser denn je. Während Brüssel vorher immer nur mit einer dürftig legitimierten, korrupten, vom Militär gestützten Politmafia verhandelte, kann sie sich nun auf ein ungewöhnlich klares Wählervotum stützen: Zwei Parteien bilden Regierung und Opposition, die beide auf dem Weg nach Europa an einem Strang ziehen und die Mehrheit im Parlament besitzen. Erdogans AKP spiegelt zudem die Identität der muslimischen Bevölkerung wider. So transparent, ehrlich und stabil war die politische Landschaft in Ankara seit Jahrzehnten nicht. Brüssels Hinhaltetaktik ist deshalb nichts weniger als der klare Bruch eines über fast 40 Jahre immer wieder erneuerten Versprechens, das da lautet: Ja, ihr seid willkommen, wenn ihr die Bedingungen erfüllt. Beitrittsverhandlungen sind ein langwieriges Unternehmen mit ungewissem Ausgang, während derer sich die EU als Sachwalter von Menschenrechten, bürgerlichen Freiheiten, Marktwirtschaft und Minderheitenschutz erweisen wird. Wer der Türkei diese Verhandlungen verwehrt, zweifelt im Grunde an der Fähigkeit der EU, der Sachwalter dieser Grundwerte und Normen zu sein. Erschienen am 12. Dezember 2002 in der "Märkischen Allgemeinen Zeitung". Den gleichzeitig veröffentlichten Kontra-Kommentar, geschrieben von MAZ-Herausgeber und Buchautor Alexander Gauland (Anleitung zum Konservativsein. Deutsche Verlagsanstalt München, 2002) finden Sie im Online-Archiv der MAZ. |